Telefonbetrug in Japan

Telefonbetrug in Japan – Wer spricht denn da?

„Hallo, ich bin’s!“

„Hallo? Akio? Bist du das?“

„Ja, genau. Ich bin leider in großen Schwierigkeiten. Du musst mir helfen…“

Genauso könnte es sich anhören, wenn eure japanische Oma das Ziel von oreore sagi (オレオレ詐欺) wäre. Oreore sagi bedeutet, dass Kriminelle ältere Leute anrufen und so tun, also ob sie ihr Enkel oder ein anderer meist junger Verwandter wären, um an ihr Geld zu kommen. Direkt übersetzt würde oreore sagi auf Deutsch „Ich bin’s! Ich bin’s!-Betrug“ heißen. Aber man würde wohl eher vom „Enkeltrick“ sprechen — auch wenn nicht nur falsche Enkel Omas und Opas in Japan anrufen.

Die Funktionsweise von oreore sagi ist schnell erklärt: Ein falscher Verwandte erzählt am Telefon, dass er in Schwierigkeiten ist — ein Unfall, Jobprobleme, Schulden bei Yakuza oder dergleichen — und so schnell wie möglich Geld braucht, um aus dieser Situation wieder herauszukommen. Das Geld wird am Ende vom angerufenen Opfer entweder auf ein Bankkonto überwiesen oder in bar an einen mitgeteilten Treffpunkt direkt an Komplizen der Betrüger übergeben.

1. Fakten über Telefonbetrug 

Zwischen 2010 und 2018 stieg die Anzahl der jährlich gemeldeten Fälle von 4.418 auf 9.145 Fälle. Die jährliche Schadenssumme nahm gleichzeitig kontinuierlich von 7.918 Millionen auf 18.891 Millionen Yen (rund 161 Millionen Euro) zu. Glücklicherweise ist im Jahr 2019 das erste Mal seit 8 Jahren die Zahl der jährlichen Fälle gesunken. Es waren „nur noch“ 6.697 Fälle. Analog verringerte sich die jährliche Schadenssumme auf 11.163 Millionen Yen (95 Millionen Euro). Doch es geht bei der Schadensbetrachtung nicht nur um Geld.

Für die Betrugsopfer entsteht nicht nur ein finanzieller, sondern vorallem auch ein psychischer Schaden, der bei manchen bis in den Selbstmord führen kann. Das Unverständnis von Verwandten und Freunden, dass man betrogen wurde, gepaart mit dem schlechten Gewissen wegen seiner eigenen Leichtgläubigkeit, dazu finanzielle Sorgen und ein aufkeimender Vertrauensverlust in die Gesellschaft. All dies wiegt schwer auf den Schultern der Opfer — manchmal zu schwer.

Hier habe ich einmal die Anzahl der Betrugsfälle und die dazugehörigen Schadenssummen für die Jahre 2010 bis 2019 grafisch dargestellt (Quelle):

Betrugsfaelle Telefonbetrug Japan
SchadenssummeTelefonbetrug Japan

Die große Mehrheit der Opfer ist über 65 Jahre alt und weiblich. Erstaunlicherweise wussten laut einer Umfrage unter 334 Geschädigten fast alle, bevor sie selbst Opfer wurden, von oreore sagi. 60 % unter ihnen gingen vorher sogar davon aus, dass sie niemals selbst auf solch einen Schwindel hereinfallen würden.

Die Gründe dafür, dass man sie dennoch ausgetrickst hat, wurden ebenfalls abgefragt. 90 % der Befragten sagten, dass die Stimme am Telefon der wahren Stimme ihres Sohnes oder Enkels so sehr ähnelte, dass sie den Fake nicht erkannten. Außerdem gaben viele an, dass sie während des Anrufs unter Schock standen, die ganze Zeit auf die Hilfe für ihren „Verwandten“ fokussiert waren und durch die Verzweiflung ihres Gesprächspartners ein enormer Zeitdruck herrschte. All diese Faktoren beeinträchtigten ihre Vorsicht und Urteilsfähigkeit und führten letztendlich zum Verlust ihres Geldes.

2. Maßnahmen gegen Telefonbetrug

Die Medien und Polizei in Japan versuchen durch besondere Berichterstattung und Informationskampagnen die Menschen zu schützen. Wer schon einmal in Japan war und etwas Japanisch lesen kann, dem ist bestimmt aufgefallen, dass gerade vor oder in Banken in der Nähe der Geldautomaten (ATM) auf Postern vor furikome sagi (振り込め詐欺) gewarnt wird. Furikome sagi bedeutet Überweisungsbetrug und wird für Betrügereien verwendet, bei denen die Opfer entweder den Kriminellen Geld überweisen oder abheben, um es direkt zu übergeben. Ob der Rückgang der Betrugsfälle mit den Bemühungen der Medien und Polizei zusammenhängen, kann ich nicht sagen. Fest steht aber, dass es immer noch ein große Anzahl älterer Japaner gibt, die auf diese für Außenstehende „billige Masche“ hereinfallen.

Warnung vor furikomisagi
Übersetzung: Vorsicht vor Überweisungsbetrug! Es gibt viele kriminelle Tricks, bei denen Bargeld direkt übergeben wird.

Die neueste Idee der Polizei von Tokyo zur Betrugsprävention ist es, dass Hundebesitzer ältere Mitbürger während ihres Gassigehens im Tokyoter Stadtteil Shinagawa über Telefonbetrug informieren. Die Hunde sollen dazu dienen, dass Eis zwischen den Gassigehern und den älteren Herrschaften zu brechen. „Es ist leichter mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, wenn man Gassi geht“, sagte einer der Hundebesitzer. Im Gespräch wird dann erklärt, wie man verdächtigte Telefonate erkennt. Die Herrchen und Frauchen der Hunde sind auf jeden Fall voll motiviert: „Ich versuche, so viel mit älteren Menschen zu reden wie ich kann.“

Rund 20 Hundebesitzer hatten sich an einem Tag zu einer „Hunde-Parade“ zusammengeschlossen und liefen mit kostümierten Hunden durch den Bezirk. Auf den Hundekostümen standen zum Beispiel Hinweise, dass ältere Leute doch besser sofort bei verdächtigen Anrufen auflegen sollten. Außerdem bittet die Polizei die Hundebesitzer, verstärkt ältere Leute anzusprechen, die gerade ATMs benutzen wollen. Diese Bitte finde ich persönlich sehr lustig, da wenn mich vor einem Geldautomaten in Deutschland oder Japan jemand ansprechen würde, ich diese Person eher verdächtig finden würde.

Die Betrugsfälle konzentrieren sich zwar vorwiegend in großen Ballungsräumen wie Tokyo, Saitama und Kanagawa, aber die Täter sitzen nicht nur in Japan, sondern auch im Ausland. 2019 wurden beispielsweise 15 Japaner in Thailand festgenommen, die von einem Luxusapartment in der Touristenstadt Pattaya Rentner in Japan angerufen und um Geld betrogen hatten. Allein diese Gruppe erbeutete rund 200 Millionen Yen (1,7 Millionen Euro) von ihren weit entfernten Opfern.

3. Ein Täter packt aus

Seit Kurzem gibt es eine japanische Netflix-Serie, die die Praktiken von oreore sagi und die Professionalität der Betrüger ausführlich beleuchtet. Die Serie heißt Scams (スカム) und handelt vom Uniabsolventen Makoto, der in der Wirtschaftskrise 2008 nichtswissend als Mitglied einer Gruppe von Telefonbetrügern rekrutiert wird. Als er schließlich die Wahrheit über seinen neuen Job erfährt, macht er dennoch aufgrund der familiären Schulden und hohen Behandlungskosten seines krebskranken Vaters weiter. Zumal allen neuen Rekruten eingetrichtert wird, dass man nur von den reichen Alten Geld nimmt, was ansonsten ungenutzt auf dem Konto verrotten würde und der armen jungen Generation fehlt — was ja kein Verbrechen ist. Wer mehr über das Thema erfahren und nebenbei Japanisch lernen möchte, ist hier gut aufgehoben.

Aber nicht nur durch fiktive Serien kann man genauer in die Welt der Telefonbetrüger eintauchen, sondern auch durch Tatsachenberichte. In der japanischen Zeitung Nikkei Shinbun berichtete ein ehemaliger 26-jähriger Telefonbetrüger — nennnen wir ihn „Kenji“ — in einem Interview ausführlich über seine kriminelle Vergangenheit. Im Folgendem habe ich den wirklich sehr interessanten Artikel für euch zusammengefasst.

3.1 Wie wurde er ein Telefonbetrüger?

Mit 16 Jahren fing es an. Kenji arbeitete nach seinem Mittelschulabschluss (nach der 9. Klasse) in einer Baufirma in seinem Heimatort und wurde gleichzeitig Mitglied in einer bousouzoku (暴走族), einer Bikergang aus jugendlichen Rowdys. Eines Tages befahl ihm der Gangboss, dass er Geld an einem vereinbarten Ort abholen sollte. Als er dies tat und das Geld schon in seinen Händen hielt, wurde er plötzlich von Polizisten umzingelt. Ohne es zu wissen, war zu einem „Abholer (受け子)“ für Telefonbetrüger geworden.

Nach seiner Verhaftung versuchte Kenji, normal bei seiner Firma weiterzuarbeiten, was er aber aufgrund seines Verbrechens nicht mehr durfte. Gleichzeig fragte ihn der Gangboss immer wieder, ob er nicht noch einmal betrügen wollte. Ohne Arbeit aber mit Geldsorgen sagte er zu. Diesmal arbeitete er nicht als „Abholer“, sondern er wurde zum „Telefonierer“ (かけ子) befördert und leitete eine von insgesamt vier Betrugszellen in Tokyo. Eine Zelle bestand aus vier bis fünf Telefonierern, die mithilfe einer aus dunklen Kanälen beschafften Telefonliste den ganzen Tag alte Menschen anrufen, um sie zu betrügen.

Seine ihm zugewiesene Zelle operierte von einer unscheinbaren Mietswohnung in einem Wohngebiet aus. Um keine Aufmerksamkeit in der Nachbarschaft zu erregen, arbeiteten die Mitglieder von Sonntagabend bis Freitagabend, ohne die Wohnung jemals zu verlassen. Fünf Tage die Woche „eingesperrt“ in einen Raum. Sie klebten sogar die Türrahmen ab, damit keine Geräusche nach draußen klinge konnten, und hielten von früh bis spät gegen neugierige Blicke alle Vorhänge geschlossen. „Am Anfang war es hart, aber bald hat man sich daran gewöhnt. „Es ist schon merkwürdig, woran man sich gewöhnen kann“, sagte Kenji.

3.2 Die Arbeitweise seiner Betrugszelle

Er beschrieb die Arbeitsweise seiner Zelle genau: Von 7:00 Uhr abends bis Mitternacht riefen sie täglich mithilfe der Telefonliste 400 bis 500 Namen an. Beim Anruf sagten sie zum Beispiel: „Ich bin’s. Meine Mandeln sind entzündet und ich geh daher morgen ins Krankenhaus. Meine Telefonnummer hat sich geändert, daher schreib sie mal auf.“ Es ist besonders wichtig, dass das Opfer die falsche Telefonnummer aufschreibt, weil wenn es sonst den richtigen Sohn mit der richtigen Nummer anruft, die ganze Sache auffliegen würde.

Telefonbetrüger in Japan
Vielleicht sieht so ein Täter aus.

Am nächsten Morgen riefen die Gangster ihr Opfer, wenn es angebissen hatte, erneut um 8:00 Uhr an. Diesmal sagten sie zum Beispiel: „Ich war im Krankenhaus, aber der Arzt sagte mir, dass der Grund für die Entzündung vermutlich Stress ist. Ehrlich gesagt, wurde eine Frau, mit der ich eine Affäre hatte, von mir schwanger und ich bin mental total fertig. Ihr Ehemann fordert nun von mir 1 Million Yen (8.500 Euro) als Schadensersatz, die ich heute überweisen muss. Mein Ersparnisse reichen nicht. Könntest du daher bezahlen?“ Teils sind auch mehrere Täter an einem Telefonat beteiligt, wobei jeder eine Rolle spielt: einen Anwalt, Polizisten oder wütenden Ehemann — alles, was das „Theaterstück“ glaubwürdiger macht.

Wenn das Opfer dann das Geld übewiesen hatte, schickten sie ihre „Abheber (出し子)“, die das Geld am ATM abhoben. Kenjis Zelle holte das Geld also nicht direkt beim Opfer ab. Dann riefen sie ihr Opfer erneut an — um noch mehr Geld aus ihm herauszupressen. „Ihr Ehemann beschwerte sich, dass nur 1 Million Yen überwiesen wurden. Ich habe doch 2 Millionen Yen gesagt. Hör mir doch zu!“ Nachdem wieder Geld überwiesen wurde, sagten sie immer neue Dinge wie „Es gibt noch Anwaltskosten“. Das ging so lange weiter, bis das Opfer irgendwann merkte, dass etwas an der Sache faul sein musste.

3.3. Das Ende eines Ex-Betrügers

Laut Kenji sind insgesamt 15 Personen auf diesen Schwindel hereingefallen. 20 % der Einnahmen floßen in seine Tasche. Aber es gab noch einen Bonus, wenn man mehr als 10 Millionen Yen (85.000 Euro) in einer Woche schaffte. Dann konnte er insgesamt 3 Millionen Yen (25.000 Euro) bekommen. Er berichtete, dass er das Realitätsgefühl verlor und nie daran dachte, dass am anderen Ende des Hörers eine Person aus Fleisch und Blut sitzt. Nur einmal, als der Schwindelt aufflog und eine alte Dame „Gebt das Geld zurück!“ schrie, realisierte er es. Mit 19 Jahren verließ er seine Zelle ohne Erlaubnis, um eine eigene Zelle zu gründen. Wegen mangelnder Geheimhaltungsmaßnahmen wurde aber ein Abholer von der Polizei festgenommen und die Zelle flog schnell auf. Einer nach dem anderen von seinen Freunden wurde geschnappt und am Ende war er, der das jahrelange Betrügen allmählich leid war, selbst an der Reihe.

Kenji verdiente Millionen von Yen mit Telefonbetrug.

Er wurde in 30 Fällen von Betrug mit einem Gesamtschaden von 60 Millionen Yen (500.000 Euro) angeklagt. Nachdem er realisierte, welchen Schaden er den Opfern angetan hatte, versuchte er sich zu bessern. Heute ist er ein gewöhnlicher Salary Man, der Finanzproduckte in Osaka verkauft. Seinen Eltern zahlt er nun das Geld zurück, was sie für ihn als Schadensersatz für die Opfer bezahlt hatten. Er selbst hatte bei seiner Festnahme kaum Geld übrig, da er alles für einen luxuriösen Lebenstil verprasst hatte. „Erst danach merkte ich, dass Geldverdienen anstrengend ist. Das ist doch klar, ne?“

Quellen:

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