Ikumen Fathering Japan

Vaterbilder in Japan 3 – Ikumen, die neuen coolen Väter?

Anzugträger, die ihre Kinder zum Kindergarten bringen… in einer Babytragetasche vor dem Bauch… und das in Japan? Ja, das gibt es — heutzutage — und habe ich auch schon öfters selbst gesehen. Es tut sich also etwas in Japan, wenn es um die Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern geht. Es gibt dafür sogar ein neues Wort: ikumen. Und damit willkommen zum Schlusssprint der Beitragsserie über Vaterbilder in Japan. Noch ein Hinweis vorab: Wer die ersten beiden Teile über die japanische Entwicklung der Vaterbilder von den 1950ern bis heute verpasst hat, kann entweder die folgende kurze Zusammenfassung lesen oder die ganzen Beiträge (1: 50er bis 70er und 2: 80er und 90er) nacharbeiten.

Wir wir bereits wissen, wandelten sich die Vaterbilder in der japanischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Gründe für die Veränderungen waren vielfältig. Gab es während des Wirtschaftsbooms von den 50er bis 80er-Jahren nahezu grenzenloses Wachstum und einen Bedarf an unermüdlich arbeitenden sarariman (männliche Büroangestellte), hat sich die Arbeitswelt am Ende der 80er-Jahre nach der Wirtschaftsblase (Bubble Economy) mit anschließender Rezession grundlegend verändert. Beides hatte Auswirkungen auf die jeweiligen Rahmenbedingungen, unter denen Väter ihre Vaterrolle ausführten bzw. ausführen konnten.

In den Jahren des Aufschwungs war es nicht vorgesehen, dass ein Vater sich um die Erziehung oder Hausarbeit kümmerte, da er als Alleinverdiener die Familie zu versorgen hatte, während seine Ehefrau Vollzeithausfrau war. Ab den 1980er-Jahren kamen aufgrund der extremen wirtschaftlichen Stärke Japans und zunehmender Kinderlosigkeit neue Vaterbilder auf, die im Kontrast zum traditionellen Vaterbild standen und einen erziehenden Vater forderten. Jedoch handelte es sich hierbei um Randerscheinungen, die von der Regierung sowie von NGOs (Nichtregierungsorganisation) und den Medien propagiert wurden, sich aber nicht in der Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen konnten.

Nach dem Platzen der Blase folgte eine jahrzehntelange Rezession. Die unsichere wirtschaftliche Lage und eine sich damit wandelnde Arbeitswelt sowie ein erneuter starker Geburtenrückgang sorgten für eine Neuorientierung der Regierung und einiger Väter. Diese spannende Periode schauen wir uns heute an: die 90er-Jahre bis heute.

1. Das Ikumen Project

2005 betrug die Geburtenrate in Japan nur 1,26 und stellte damit einen weiteren Rückschlag für die Regierung dar. Denn diese hatte schon in den 90er-Jahren mittels familienpolitischer Reformen und Kampagnen zur Erhöhung der Väterbeteiligung versucht, dem Geburtenrückgang und der Überalterung entgegenzuwirken. Im Jahr 2010 wurde daraufhin das Kindererziehungs- und Familienpflegegesetz angepasst. Unternehmen wurden verpflichtet, Urlaub zu gewähren und allen Arbeitnehmern mit Kindern unter drei Jahren einen verkürzten Arbeitstag mit sechs Stunden und für Väter im Einzelfall eine Befreiung von Überstunden anzubieten.

Parallel startete die japanische Regierung eine Kampagne unter dem Titel „ikumen (イクメン)“ und damit einen erneuten Versuch, die gesellschaftliche Akzeptanz von Vätern zu erhöhen, die sich neben ihrer Arbeit um ihre Kinder kümmern. Das vorwiegend von der Regierung und den Medien verwendete Wort ikumen ist dabei eine Wortneuschöpfung und setzt sich zusammen aus dem ersten Teil des japanischen Begriffs „ikuji (育児)“ Kindererziehung, und dem englischen Wort „men“ für Männer.

Gleichzeitig stellt es ein Wortspiel mit dem modernen japanischen Begriff „ikemen (イケメン)“ dar, der „gutaussehende Männer“ oder „coole Typen“ beschreibt, wodurch der Begriff dafür stehen soll, dass erziehende Väter eine gewisse Coolness besitzen. Ikumen bezeichnet somit eine neue Generation junger japanischer Väter, die sich im Gegensatz zu den distanzierten und abwesenden Vätern von früher, aktiv an der Kindererziehung beteiligt.

Ein Ikumen ist allzeit bereit zum Fläschchen geben.

Das für die Familienpolitik zuständige Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales (MHLW) erstellte ebenfalls eine eigene Homepage für ihr „Ikumen Project (イクメンプロジェクト, Link)“ und unterstützte die Kampagne mit einem Poster, auf dem ein junger Büroangestellter im Anzug zu sehen war, der sein Hemd aufreißt und dabei seine kraftvolle mit einem Superman-T-Shirt bedeckte Brust entblößt (Link). Laut dem Ministerium geht es darum, „den aktiv erziehenden Mann“ darzustellen, „der zur Kraft der Gesellschaft, der Unternehmen und der Familie wird“.

Fernsehspecials und Zeitungen berichteten über die neuen Väter, es erschienen Mangas, Bücher oder Zeitschriften (z. B. FQ Japan) über ikumen und Wettbewerbe kürten Prominente als „Ikumen of the Year“. Zudem kamen immer mehr „ikumen-Produkte“ auf den Markt, die man als „meist angepasste, vaterfreundliche Varianten bereits gängiger Produkte“ bezeichnen kann und durchaus von wirtschaftlicher Bedeutung sind.

2. Ikumen-Boom — mehr Schein als sein?

Die japanische Sozialwissenschaftlerin Ishii-Kuntz weist auf der anderen Seite darauf hin, dass die Aufmerksamkeit, die die von den Medien als ikumen bezeichneten Väter in den Medien erfahren, vielmehr mit der Neuheit der männlichen Erziehungsarbeit zusammenhängt als mit dem Alltag vieler japanischer Väter, von denen sich 2012 lediglich 16,6 % uneingeschränkt als ikumen bezeichneten.

Dies liegt daran, dass es zwar seit den 90er-Jahren einen Wandel in der Einstellung der Väter zur Kindererziehung und Arbeitsteilung gibt, doch aufgrund der Arbeitskultur und der weiterhin stark ausgeprägten Wahrnehmung von Kindererziehung als weiblicher Aufgabenbereich herrscht immer noch eine Kluft zwischen dem „ikumen-Boom“, der von den Medien vermittelt wird, und dem Alltag japanischer Väter, die kaum eine Chance haben, das von den Medien und der Regierung proklamierte „ikumen-Ideal“ umzusetzen.

Die Realität ist für viele japanische Väter leider anders.

Umfragen belegen aber dennoch einen Einstellungswandel gegenüber der traditionellen Geschlechterrollenverteilung und bestätigen, dass immer weniger Japaner dieser zustimmen. Stimmten 1999 noch 60,1 % der Befragten zu, dass der Mann als Ernährer und die Frau für den Haushalt dienen sollte, sank diese Anzahl 2012 auf 51,6 %. Außerdem nahm der Anteil der Männer, die sich mehr in Kindererziehung und Hausarbeit involvieren möchten, von 47,7 % im Jahr 2005 auf 54,2 % im Jahr 2009 zu. Zum Beispiel erhöhte sich von 1999 bis 2011 die Anzahl der Väter, die ihre Kinder baden, vom Kindergarten abholen oder ins Bett bringen, jeweils um mehr als 5 %.

In den Unternehmen versuchte die Regierung ebenfalls einen Einstellungswandel anzustoßen. Seit Herbst 2013 gibt es den vom MHLW vergebenen „ikumen-Unternehmenspreis“ (イクメン企業アワード), der für Firmen gedacht ist, die sich durch eine väterfreundliche Unternehmenspolitik auszeichnen. Das Ziel ist es, auf der Unternehmerseite die Akzeptanz und damit die Unterstützung für erziehende Väter zu fördern.

3. Fathering Japan

Neben den staatlichen Bemühungen erhöhte sich die Anzahl an privaten Väterinitiativen und NGOs, die mit dem Ziel eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels gegründet wurden. 2006 wurden beispielsweise die NGOs Fathering Japan (ファザーリング・ジャパン, Link) und „Ikumen Club (イクメンクラブ)“ gegründet. Beide Organisationen setzen sich dafür ein, das Wissen über Erziehung von japanischen Vätern zu erhöhen sowie die gesellschaftliche Akzeptanz von erziehenden Vätern zu steigern. Interessierte Väter bzw. Eltern können beispielsweise an Erziehungsseminaren teilnehmen oder bei Events zusammen mit ihren eigenen Kindern und weiteren Familien etwas unternehmen. Ein Vater sollte eben nicht mehr nur als Familienernährer dienen, was früher seine traditionelle Rolle in Japan war.

Fathering Japan hat Verbindungen zum MHLW und tourt mit der Vision einer neuen Vaterschaft durch Japan, um Seminare und Workshops in Gemeinden, Schulen und Unternehmen anzubieten. Der Wunsch der Organisation ist es, „lächelnde Väter (笑ってる父親)“ und nicht „gute Väter (良い父親)“ zu schaffen, was die deutsche Sozialwissenschaftlerin Schad-Seifert mit dem traditionellen Vaterbild in Beziehung setzt, welches den Vater als bedrohlichen autoritären Vater beschreibt, der seine Rolle als „guter Vater“ ausfüllt, indem er seine Familie ernährt.

So sollte ein (lächelnder) Vater in Japan aussehen.

Neu ist auch der von Fathering Japan geforderte Vatertyp, der sich frei als Vater ausdrücken kann und sich nicht schämt, es vielmehr genießt, Vater zu sein und sich um seine Kinder zu kümmern. 2011 zeigte eine von Fathering Japan durchgeführte Umfrage, dass von 1030 angestellten Vätern 46,6 % „hidden child care leave“ nahmen. Das bedeutet, dass sie, statt das gesetzliche Erziehungsurlaubssystem in Anspruch zu nehmen, ihren betrieblichen Jahresurlaub nutzten, um ihre Frau mit dem Neugeborenen zu unterstützen. Der Großteil der Väter nahm nur drei Tage und die überwiegende Mehrheit weniger als eine Woche Urlaub, obwohl sie sich wünschten, zwischen zehn Tagen und einem Monat für ihre Frau und ihr Kind zuhause sein zu können.

4. Realitätscheck und unerwartete Hilfe?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ab dem neuen Jahrtausend die Anzahl der Väter, die sich stärker um ihre Kinder kümmern möchten und traditionelles Rollendenken ablegten, weiter anstieg. Zudem gab es Bemühungen des MHLWs, diverser NGOs und der Medien, das Phänomen ikumen in Japan bekannter zu machen, um mehr potentielle Väter zu motivieren selbst ein ikumen, ein an der aktiven Erziehung Spaß habender Vater, zu werden.

Heutzutage engagieren sich zwar im Vergleich zu früher immer mehr junge Väter bei der Erziehung ihrer Kinder, doch verglichen mit anderen Ländern ist ihre Anzahl immer noch gering. Und das, obwohl die Regierung schon seit mehr als 20 Jahren mit Kampagnen und Gesetzen versucht, diese Anzahl zu erhöhen, um Überalterung und Kinderlosigkeit in der japanischen Gesellschaft entgegenzuwirken. Das Bild der Regierung von einem ikumen ist für die Mehrheit der Männer noch nicht zur Realität geworden.

Denn es ist weiterhin exotisch und in vielen Firmen undenkbar, wenn man als Vater weniger arbeiten oder gesetzlichen Erziehungsurlaub nehmen möchte. Finanzielle Einbußen sowie starre traditionelle Rollenbilder der Beteiligten sorgen dafür, dass das Dasein eines erziehenden Vaters vielmehr immer noch eine Ausnahme als die Regel ist.

Denn berücksichtigt man Statistiken, gibt es immer noch große Differenzen zwischen dem Wunsch einiger Väter nach mehr Beteiligungsmöglichkeiten an der Erziehung, ihrer eigenen Realität am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft sowie dem Idealbild eines Landes voller ikumen: 2009 bekundeten 30 % der Väter ein Interesse am gesetzlichen Erziehungsurlaub, doch nur 1,72 % aller Väter nahmen ihn schließlich.

Könnte Homeoffice die Wende bringen?

Die heutige Frage ist, ob die aktuellen Homeoffice-Möglichkeiten in Japan „dank“ der Corona-Pandemie eventuell auch eine Chance für Väter sein können, langfristig mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Man wird sehen, was nach Corona von der neuen Arbeitswelt in Japan übrigbleibt und ob diese der ikumen-Bewegung einen Schub geben kann.

Quellen:

Ich habe hauptsächlich Quellen benutzt, die ich in meiner Bachelorarbeit verwendet habe. Alle anzugeben, dauert zu lange, aber wenn sich jemand für die Quellen interessiert, kann ich gerne ein paar Bücher/Webseiten empfehlen.

Bildquellen:

https://www.photo-ac.com/main/detail/4916072?title=%E5%93%BA%E4%B9%B3%E7%93%B6%E3%82%92%E6%8C%81%E3%81%A4%E7%94%B7%E6%80%A7%E3%81%AE%E3%82%A4%E3%83%A1%E3%83%BC%E3%82%B8&searchId=3737415886

https://www.photo-ac.com/main/detail/4775655?title=%E3%83%86%E3%83%AC%E3%83%AF%E3%83%BC%E3%82%AF%E4%B8%AD%E3%81%AE%E3%83%91%E3%83%91%E3%81%AE%E9%82%AA%E9%AD%94%E3%82%92%E3%81%99%E3%82%8B%E3%82%A2%E3%82%B8%E3%82%A2%E4%BA%BA%E3%81%AE%E5%AD%90%E4%BE%9B&searchId=3334183759

https://www.photo-ac.com/main/detail/4916066?title=%E5%AE%B6%E4%BA%8B%E3%81%AB%E5%A4%B1%E6%95%97%E3%83%BB%E5%8F%8D%E7%9C%81%E3%83%BB%E5%9B%B0%E6%83%91%E3%81%97%E3%81%A6%E3%81%84%E3%82%8B%E7%94%B7%E6%80%A7%E3%81%AE%E3%82%A4%E3%83%A1%E3%83%BC%E3%82%B8&searchId=3619040003

https://www.photo-ac.com/main/detail/4732798?title=%E6%A5%BD%E3%81%97%E3%81%9D%E3%81%86%E3%81%AB%E3%81%AF%E3%81%97%E3%82%83%E3%81%8E%E3%81%AA%E3%81%8C%E3%82%89%E6%95%A3%E6%AD%A9%E3%81%99%E3%82%8B%E5%AE%B6%E6%97%8F&searchId=1865998542

https://www.photo-ac.com/main/detail/4916082?title=%E6%9C%9D%E3%81%AE%E6%94%AF%E5%BA%A6%E3%81%AB%E3%83%90%E3%82%BF%E3%83%90%E3%82%BF%E3%81%99%E3%82%8B%E7%94%B7%E6%80%A7%E3%81%AE%E3%82%A4%E3%83%A1%E3%83%BC%E3%82%B8&searchId=2211281786

4 Antworten auf “Vaterbilder in Japan 3 – Ikumen, die neuen coolen Väter?”

  1. Hallo !
    Ich schreibe derzeit an meiner Ba-Thesis und würde mich super freuen, wenn Sie mir ein paar Websites und Literatur zu diesem Thema empfehlen könnten. Wobei mein Thema „Bildung und Erziehung in Japan“ sein wird und ich mich eher auf die Qualitt der Begriffe beziehen möchte.

    Ich freue mich über eine Antwort

    Liebe Grüße
    Yuko

    1. Hallo Yuko,

      vielen Dank für deinen Kommentar. In meiner Arbeit habe ich mich natürlich vorwiegend mit den Vaterbildern in Japan beschäftigt und weniger mit der Bildung und Erziehung von Kindern. Wenn überhaupt, dann mit der Erziehung von Vätern^^ Aber ich würde mich freuen, wenn ich dich etwas bei deiner Arbeit unterstützen kann.

      Also, wenn du möchtest, kann ich dir ein paar Informationen per Mail schicken. Dann kannst du dir überlegen, welche Quellen für dich interessant sein könnten. Sag bitte einfach kurz bescheid, ob das für dich okay ist. Deine Mailadresse habe ich ja schon.

      Viele Grüße

      Flo

  2. Hallo Florian,
    sehr Interessante Beiträge!
    Da ich selbst gerade im Rahmen meines Studiums mit Vaterbildern in Japan auseinandersetze, wäre ich sehr an deiner Bachelorarbeit bzw. an den Quellen interessiert.
    Du kannst sie mir gerne, wie oben bei der Dame angeboten per Mail zusenden, ich würde mich sehr freuen!!

    Liebe Grüße 🙂

    1. Hallo Glory,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Es scheint ja wirklich viele zu geben, die an der Uni etwas über japanische Vaterbilder schreiben wollen 😉 Ich helfe natürlich gerne. Ich melde mich bei dir!

      Viele Grüße

      Flo

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